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Antifa-Roman

54 | Antifa heißt Handarbeit

Am Freitag sitzen Vera, Marlene und Marc nach der Schule in Marcs Zimmer. Es sieht aus wie in einer Kinderbastelstube. Überall liegt Papier herum, Ausdrucke, Kleber und Scheren.

„Wann kommen deine Eltern eigentlich wieder?“, fragt Marlene.

„Keine Ahnung“, antwortet Marc. „Aber heute nicht. Sie sind irgendwo bei Freunden.“

Vera layoutet kleine Plakate im DIN-A4-Format.

„Marc, gib mir mal die Zettel.“ Er reicht ihr einen Computerausdruck. 25 davon liegen neben ihm. Sie enthalten Namen, Beruf, Ausbildungsstelle/Schule, Adresse, Alter, Funktion im Nazinetzwerk jedes einzelnen Nazis, der an dem Überfall beteiligt war.

„Und jetzt den Kleber.“

Vera trägt OP-Handschuhe. Fein säuberlich klebt sie die Ausdrucke neben die Porträtaufnahmen der Nazis.

Anfangs wollten sie alles am PC machen, entschieden sich aber für die Handarbeit. „Das hat dann auch einen coolen 80er-Retrolook“, entschied Marlene.

„So, und jetzt die Tattoos daneben“ sagt sie. „Marlene, wir fangen mit Karl Markowitz an.“ Die Großaufnahmen der Tätowierungen vervollständigen die Personenbeschreibung. Nach zwei Stunden ist alles geschafft. Stolz hält Vera das letzte Werk in die Höhe: „Perfekt. Ein Wunder antifaschistischer Schaffenskraft.“

Marc und Marlene lachen. Er reicht ihr einen großen Beutel.

„Packt die fertigen Plakate hier rein und in den Rucksack. Und jetzt nichts wie los. Der Copyshop schließt um 18 Uhr und der Betreiber sah aus, als wäre er gern pünktlich“, drängt Marc zur Eile.

Sie fahren mit dem Bus nach Mainz und legen los. Marc hatte sich den Kopierladen vorher angesehen. Er ist ideal. Zwei Personen können die dritte leicht beim Kopieren abschirmen. Sie vervielfältigen die Miniplakate unauffällig und ohne Fingerabdrücke darauf zu hinterlassen. Von jeder Version fertigen sie deshalb mehr Kopien an als nötig und berühren immer nur die oben und unten liegenden Seiten. Diese werden später aussortiert und verbrannt. Für alle Fälle haben sie ihre Finger und Handflächen noch mit unsichtbarem Spühverband eingesprüht.

Ebenso vorsichtig verfahren sie mit den Empfängeradressen. Sie haben sie zusammen auf eine DIN-A4-Seite geschrieben – natürlich nicht handschriftlich, sondern mit dem PC – und kopieren nun die Ausdrucke. Zuhause werden die Adressen ausgeschnitten und auf saubere Umschläge geklebt. Alle dazu benutzten Utensilien – Scheren, Kleber, Papierreste, Briefumschläge etc. – werfen sie später in den Müll. „Benutzt niemals etwas aus eurem Haushalt und entsorgt immer alles komplett. Die Spurenspezialisten können herausfinden, ob eine Briefmarke aus einem bestimmten Automaten stammt“, hatte ihnen Frolic eingeschärft. „Und tragt immer OP-Handschuhe. Immer. Die kosten nichts und sind extrem hilfreich! Eine zusätzliche OP-Maske kann auch nicht schaden. Sind wir wegen Corona ja eh alle gewöhnt.“

Zurück bei Marc packen sie die kleinen Steckbriefe in die adressierten und ausreichend frankierten Umschläge.

„Mann, ist das eine langweilige Arbeit“, mault Vera.

„Stimmt, aber es muss sein“, sagt Marlene.

„Und dann diese doofen Handschuhe.“

„Wer sauber arbeitet, sitzt später nicht“, bemerkt Marc. „Na, von wem stammt das?“

„Von Frolic. Habe ich dir erzählt“ antwortet sie.

„Wenn der nicht gewesen wäre, hätten wir ganz schön viele Fehler gemacht“, erinnert sich Marlene.

„Allerdings! Und gut, dass ich das Geld bekommen habe, sonst müssten wir das alles auch noch aus eigener Tasche bezahlen.“

„Meint ihr, wir haben jemanden als Empfänger vergessen?“, fragt Marlene, während sie mit Gummihandschuhen die Umschläge aus den Großpackungen fischt, die sie vor Wochen schon im Großmarkt gekauft haben.

„Ich glaube, außer der Feuerwehr haben wir alle“, lacht Vera. Ihre Laune steigt. Sie sind fast fertig. „Wir haben Schulen, Eltern, Jugendämter, Vermieter, Nachbarn, Jugendclubs, Zeitungen, das Arbeitsamt, Antifa-Zeitschriften und Kirchen.“

Jeder Empfänger bekommt 25 DIN-A4-Blätter. Jedes Mini-Plakat enthält Fotos, Informationen und die Überschrift: „Vorsicht, gefährlicher Neonazi“.

„Hoffentlich klappt das alles so, wie wir uns das denken“ wirft Marlene ein. „Ich wünsche mir, dass das wirklich Druck auf die Nazis erzeugt, wenn jeder Bescheid weiß.“

„Frolic hat erzählt, dass die Fotos im Kurier schon gewirkt haben und dass die völlig durcheinander sind“, erinnert Vera Marlene an das letzte Gespräch.

Die Jugendlichen hoffen, dass es zu massiven persönlichen Distanzierungen gegenüber einzelnen Nazis kommt, dass beispielsweise Vermieter mit den Eltern sprechen und diese dann mit ihrem Nazi-Sohn, dass Arbeitgeber sie entlassen, Jugendclubs die Nazis leichter identifizieren können und Lehrer gewarnt sind. Als besonderes Gimmick ist ein Link zu einem Youtube-Film angegeben. Für weitere Informationen …

„Jetzt heißt es aufräumen.“ Marcs Zimmer sieht aus wie bei einer Renovierung. Auf dem Boden ist eine große Plastikplane aus dem Malergeschäft ausgebreitet, die von Marlene feinsäuberlich an den Fußleisten 20 cm hoch mit Tape verklebt wurde. René hatte ihr gesagt, dass so keine Bastel-Reste auf den Boden fallen und zu Spuren werden. Außerdem wollen die Schüler dadurch vermeiden, dass typische Schmutzpartikel vom Fußboden, wie Haare, Hautschuppen oder sonst etwas, in die Briefe geraten. Immerhin enthalten die ihre DNA.

„Meint ihr eigentlich nicht, dass unsere Spurenmaßnahmen nicht völlig übertrieben sind?“, fragt Vera. „Wir bauen doch keine Bomben.“

„Denke ich auch“, meint Marlene. „Aber vielleicht ist sicher eben sicher. So haben wir danach keinen Stress.“ Marc merkt ihr an, dass sie keine Lust mehr auf Aufräumen hat. „Komm, Vera“, sagt er, „wir kümmern uns um den Kram hier und Marlene macht den Film klar. Dann sind wir schneller fertig.“

„Gute Idee! Ich habe auch keinen Bock mehr!“

Marlene öffnet auf dem von Max eingerichteten Laptop die verschlüsselten Verzeichnisse. Mit einer Wegwerfkamera fotografiert sie die 25 Mini-Plakate und überträgt sie auf den Laptop. Sie montiert die 25 Fotodateien der Mini-Plakate mit den Nazis hintereinander, legt eine coole Musik drunter. GEMA-frei, damit die Deppen von Youtube den Film nicht gleich sperren! Der Tipp kam von Rainer, der mit seinen Kumpels schon öfter Sprayervideos veröffentlich hat. Dann setzt Marlene den Film vor die Fotos, den einer von Mîrhats Leuten geschnitten hat. Er zeigt die Aktion gegen die Nazis, ihr erbärmliches Gejammer und die gefesselten Gestalten in Unterhosen am Fußballtor. Außer den Nazis ist niemand zu hören.

Abschließend speichert sie alles zusammen als neue Datei unter einem unverfänglichen Namen in einem verschlüsselten Verzeichnis. Sie reinigt die Festplatte und klappt den Laptop zu.

„Fertig!“

„Wir auch“, antworten Marc und Vera. Sie haben die heiklen Überbleibsel wie doppelte Plakate, Fotos und Tattoobilder von dem eher unauffälligen Müll wie Kleber, Messer, Briefumschläge usw. getrennt und in eine Tüte in Marcs Rucksack gestopft. Dann sind sie mit dem Staubsauger durch Marcs Zimmer gesaust und haben auch den Staubsaugerbeutel in die unkritische Mülltüte gestopft. Marlene trägt sie in einer großen Umhängetasche aus dem Haus. Ein paar Straßen weiter entsorgt sie alles in einem Abfallcontainer vor einem Wohnblock. Es ist diesig und kalt, die Jugendlichen tragen Handschuhe, Mützen und ihre Rucksäcke. Vera hakt sich bei Marc unter.

„Gleich ist alles überstanden“, flüstert sie.

„Ja, fast“, sagt er und küsst sie zärtlich. Marlene lächelt. Ein schönes Paar, denkt sie. Gemeinsam fahren sie mit dem Bus zu einem WLAN-Spot in der Innenstadt, den Marlene vorher ausgeguckt hat. Sie setzen sich in ein Café, bestellen Kakao und gehen mit dem alten Laptop online. Das Betriebssystem Tails sieht aus wie Windows, das erweckt keinen Verdacht. Sie loggen sich bei Youtube mit dem von Max eingerichteten Profil ein und laden die Filmdatei hoch. Es scheint ewig zu dauern.

„Lass uns mal nebenbei irgendwelche Filme schauen“, schlägt Marlene vor. Vera trinkt an ihrem Kakao. „Warum?“

„Um nicht aufzufallen! Wenn wir zusammen zuschauen, wie eine Datei hochgeladen wird, sieht das vielleicht ein bisschen doof aus.“ Sie lachen. Marlene sucht ein paar langweilige Katzenvideos heraus. „Mist, das bremst das Hochladen noch mehr aus.“

„Egal, Hauptsache, wir kommen hier bald weg“, nörgelt Marc. Vera küsst ihn.

„Geduld mein Lieber, Geduld.“

Als der Film oben ist, stehen Marc und Vera auf, um die Sicht auf den Laptop zu versperren. Zusammen schauen sie sich das Video an. Nur Marc hört den Ton mit seinen In-Ear-Kopfhörern. Es beginnt mit dem Zeichen der antifaschistischen Aktion, dann folgt der Film und am Schluss die Mini-Plakate.

„Sieht gut aus“, sagt Vera.

„Schade, dass ihr die Musik nicht hören könnt und die heulenden Nazis“, flüstert Marc. Er wird langsam nervös. „Ich will hier nur noch weg. Lasst uns gehen.“

Die drei stehen auf. Marc zahlt am Tresen. Ihr nächstes Ziel heißt Briefkasten.

„Gut, dass es so kalt ist, da fallen wir mit unseren Handschuhen nicht auf.“ Vera trägt eine große Tüte. „Habt ihr eigentlich mal gezählt, wie viele Briefe wir gleich einwerfen?“

„Hallo“, antwortet Marc. „Ich habe die Umschläge und die Briefmarken gekauft. Es sind um die hundert.“

„106, wenn du es genau wissen willst.“ Vera bleibt stehen. „Hier sind wir. Los, rein damit.“

Laut Plan werden die Briefe erst am Montag für Aufregung sorgen. Heute wird der Briefkasten nicht mehr geleert, sondern erst morgen, am Samstag. Zustellung also vermutlich am Montag, spätestens Dienstag. Die Woche soll für die Nazis mit einem Paukenschlag beginnen.

„So“, sagt Marlene, als der letzte Brief eingeworfen ist. „Ich habe jetzt keine Lust mehr auf den Nazischeiß. Ich brauche jetzt mal was anderes.“

„Es ist halb sieben“, antwortet Marc. „Zeit, zu Stefan zu gehen. Lasst uns ein paar Bier und Mate holen.“

Sie gehen zu einem Kiosk und steigen dann in den Bus. „Wegen der Flaschen ist mein Rucksack jetzt zwar schwerer, aber trotzdem fühle ich mich erleichtert“, sagt Marlene.

„Ich nicht. Ich habe ja noch den Sondermüll hinten drin“, antwortet Marc. „Ich bin erst froh, wenn der bei Stefan durch den Schornstein geraucht ist.“

„Gut, dass seine Eltern nicht da sind und die einen großen Kamin haben“

„Bei uns im Wohnblock wäre das unmöglich“, sagt Marlene. „Wir Assis haben keine offenen Kamine.“

„Wir Dichter und Denker aus dem Dichterviertel auch nicht,“ gibt Vera zurück und zieht die rechte Augenbraue hoch.